Sturmflut Februar 1962

Bericht von R.Schult aus Zeitungen u.Fotos von Bekannten u.Feuerwehr Hörne

Bei der Sturmflut v. 17.02.1962 kam es zu einer verheerende Flutkatastrophe an der deutschen Nordseeküste und an den Unterläufen von Elbe und Weser, sowie an ihren damals noch ungesicherten Nebenflüssen. 

Es wurden hohe vorher nie beobachtete Wasserstände erreicht.

Auszug aus der Hamburger Morgenpost von 23.02.1962
Sturmflut 1962 Baljer Leuchtturm.
Eigangsbereich zum Leuchtturm vor der Sturmflut
Eingangsbereich zerstört
Große Steine wurden aus dem Leuchtturmfundament herausgespühlt

Balje / Hörne

Sturmflut Februar 1962 war das schwedische Schiff Silona kurz vor dem

Baljer Leuchtturm auf der grünen Wiese auf Grund gelaufen

Silona
Einsatz der Hörner Feuerwehr am 25.Februar 1962 bei einem Brand im Hörner Außendeich.
Die Silona wird an Ort und Stelle verschrottet.
Hamburger Morgenpost 26.02.1962 Schiffsbrand auf der Wiese. Vier Leute waren an Bord

Sturmflut in Kehdingen u. Kreis Land Hadeln

 

 



Besuch aus Hörne
Hörne/Balje,rechts vom Gellertweg zum Leuchtturm.Im Hintergrund Gut Hörne -1962
und hinter dem Deich
Links vom Gellertweg zum Leuchtturm

Sturmflut über Hamburg 1962 

Hamburger Abendblatt/edition

von Alexander Schuller

Baljer Leuchtturm / Schwedisches Schiff Silona

Eine Abschrift von Reinhard Schult aus dem Hamburger Abendblatt

 

Elbmündung.16.Februar 1962,18.05 Uhr.

Kapitän Sven Nilson schickte ein kurzes und stilles Gebet in den Himmel, als sein schwedischer 2300- BRT-Frachter Silona nach über standener Sturmfahrt durch die Untiefe der Außenelbe die Cuxhavener Kugelbake passierte. Wenige Minuten später tauchten an Steuerbord die Lichter der 44000 Einwohner zählenden niedersächsischen Hafenstadt auf. jetzt kann eigentlich nicht mehr viel passieren, nachdem er und die 24 köpfge Besatzung der Silona dem Klabautermann so glücklich entronnen waren. Die beiden gestrandeten Frachter auf dem Grpßen Vogelsand waren ein erschreckender Anblick gewesen. Gut, dass er ein paar Tonnen Wasser mehr als üblich hatte bunkern lassen - als Ballast, damit die unbeladene Silona in der rauhen See ruhiger lag.

Auf der Brücke dieses wesentlich kleineren Schiffes, einer betagten Veteranin des Meeres, die schon im Jahre 1919 auf Kiel gelegt worden war, konnte man jetzt die Erleichterung beinahe mit den Händen greifen. Aber Nilsons Freude legte sich schnell: Selbst hier, im Vermeintlichen Fahrwasser der Elbe, dicht unter Land,herschte ein Seegang, wie er ihn auf derElbe noch nie zuvor erlebt hatte. Die Silona hatte tags zuvor im holländischen Zaandam abgelegt. Das Ziel der Reise hieß Gdingen in Polen. wo eine Ladung Stückgut auf den Frachter wartete. Doch angesichts des Wetter und der Wellen sehnten die Seeleute an Bord nun erst einmal die Einfahrt in den sicheren Nord-Ostsee- Kanal herbei, und, sofern es sich um Decksleute handelte,trockene Klamotten.

Nilson, der 50 jährige Kapitän, hatte in Cuxhaven seinen zweiten Wohnsitz. Die Elbe hatte er schon häufiger befahren.Doch obwohl ihm das Fahrwasser eigentlich vertraut war, forderte er über Funk Lotsenhilfe an, denn das Wetter wurde immer schlechter. Schwere Seen ließen den Rumpf der Silona erbeben. Graupel und Hagelschlag peitschten über dem Strom, dazu kamen die schmutziggraue Gischt und die Dunkelheit. Auf der Brücke wurde die Notbeleuchtung eingeschaltet, um die Blendwirkung so gering wie möglich zu halten. Trotz alledem blieb die Sicht miserabel. Dabei herschte wegen des Orkans im Tiefenfahrwasser mehr Schiffsverkehr als in Spitzenzeiten - bei günstigerem Wetter - üblich. Die Devise hieß: Rette sich wer kann! Nilsons Wangen zuckten. Soweit er es erkennen konnte, waren der Hafen und die Außenreeden bereits mit ankernden Schiffen überfüllt, die vor den entfesselten Naturgewalten Schutz gesucht hatten.

etwa eine halbe Stunde später, um 18.35 Uhr, rückte die Cuxhavener Feuerwehr zu ihrem ersten Sturmeinsatz aus: In de Kirchenpauerstraße war ein Geländer mit Teilen des Fundaments vom Dach eines Mehrfamilienhauses gefegt worden und hatte eine Stromleitung zerrissen.  Exakt zum selben Zeitpunkt ging ein Boot der Cuxhavener Lotsenbrüderschaft an Backbord der Silona hoch. den tödlichen Unfall seines Kollegen Ulrich Engbruch ein paar Wochen zuvor hatte der Lotse, wie alle anderen Lotsenbrüder auch, längst nicht verdaut. doch immer trugen die wenigsten Lotsen eine Schwimmweste. Auch Mehlert verzichtete nach wie vor auf das klobige, unpraktische Rettungsgerät, das auf der Jakobsleiter schrecklich hinderlich war.

   Die Begrüßung an Bord verlief herzlich.>> Jetzt noch zwei Stunden, und wir sind im Kanal<<, sagte Kapitän Nilson und ließ den Stewart heißen Kaffee auf der Brücke servieren. Erich Mehlert blickte ihn skeptisch an.>>Ich fürchte, nein, Herr Nielsen<<, entgegnete er dann bedächtig.>>Ich habe nämlich gehört, dass ab 19.00 Uhr in Brunsbüttel wegen Hochwasser nicht mehr geschleust werden soll. Wahrscheinlich müssen Sie die Nacht ebenfalls auf Reede verbringen. Im Übringen haben wir eine Sturmflutwarnung...<<

>>Sturmflutwarnung?<<,fragte der Kapitän.

>>Die Warnung soll spätestens um 19.00 Uhr übers Radio kommen<<, nickte Mehlert und tippte an seinem Kaffee.<< Hab ich jedenfalls gehört. Und das die Nordost-Reede vor Brunsbüttel schon übervoll ist und die Neufeld-Reede-Ost ebenfalls. Haben Sie eigentlich schon UKW-Funk an Bord?<<  >>Leider nein<<, ,meinte Nilson achselzuckend.<< Über diese neuen Funkgeräte verfügten nur die neueren Schiffe, aber nicht solche Pötte wie die > Silona<<<. >>Wir haben übrigens extremen Schiebewind<<, bemerkte der Lotse und empfahl dem Rudergänger, ein paar Grad abzufallen. An den schwerfälligen Reaktionen des Schiffes war zu spüren, dass der Sturm erneut an Stärke zugenommen hatte: Die Silona gehorchte ihrem Ruder nur sehr widerwillig. Kapitän Nilson befahl volle Fahrt, aber die Geschwidigkeit des Frachters blieb fast unverändert. Mehlert schätzte die Höhe der Wellen auf gut drei Meter. Solch einen Seegang hatte er in den elf Jahren, in denen er auf der Außenelbe nun schon Dienst schob, noch nicht erlebt. Der enorme Druck des Windes hielt sogar die ablaufende Tide zurück! Mehlert kratzte sich nachdenklich am Kinn: Bald würde das Hochwasser wieder fallen...

In Gedanken ging der Lotse schon einmal das Ankermanöver auf der Neufelder Reede durch. Da konnte es noch mal eng werden. Denn die schwachbrüstige Maschine der Silona hatte einen Orkan wie diesem hier nur wenig entgegenzusetzen- eigentlich so gut wie gar nichts. Außerdem lag das unbeladene Schiff hoch im Wasser. Mehlert begann,  sich ernsthaft Sorgen um den alten Kahn zu machen: Was, wenn sie in eine gefährliche Situation gerieten, in der schnelles Handeln und vor allem exaktes Manövrieren gefragt wäre?

Der Lotse kniff verärgert die Lippen zusammen: Die Schleusentore des Nord-Ostsee-Kanals waren mit der Sturmflutwarnung um 19.00 Uhr tatsächlich geschlossen worden. Der Weg in die Ostsee blieb nun allen ankommenden Schiffen verspert. Dutzende ankernten bereits bereits dicht an dicht auf den Reeden der Unterelbe, den Bug oder das Heck in den Wind gedreht, um den Orkan so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Denn Vincinette besaß tatsächlich die Frechheit, immer stärker aufzudrehen: Einzelne Böen erreichten Windgeschwindigkeit um die 14 Beaufort.

Als die Silona etwa eine weitere halbe Stunde später den Medemgrund hinter sich gelassen und Kapitän Nilson - nach Absprache mit seinem Lotsen - einen Liegeplatz auf der westlichen Reede, etwa, in der Höhe von Otterndorf am Südufer des Stroms, ins Auge gefasst hatte, folgte das entscheidende Manöver, das einmal volle Konzentration von allen Beteiligten erforderte: Der Anker musste ausgebracht werden. Nach kurzer Diskussion entschieden Nilson und Meinert fürs Ausbringen des Steuerbordankers. Die Matrosen auf dem Vordeck hatten sich mit Leinen gesichert. Sie konnten sich im Sturm kaum aufrecht halten und krochen mehr übers Deck, als sie liefen. Anker fallen lassen! Bellte Nielson durch das Befehlsrohr. Eine Sekunde später rasselten zwei Tonnen Eisen ins Wasser. Gleich würde sich der Anker in den Grund der Elbe bohren, müsste sich nur noch die Kette spannen.... Ein kurzer Ruck ging durch das Schiff. Der Anker hatte gegriffen. Kapitän Nelson und der Lotse tauschten einen zufriedenen Blick. Doch in diesem Moment traf eine schwere Okanbö das Schiff und ließ es auf die Backbordseite krängen. Die Silona in allen Nieten und Schweißnähten. Es gab ein kurzes dröhnendes Poltern. Metall schramte auf Metall.Ein erneuter Ruck ließ das Schiff erzitterten. DieMänner auf der Brücke verloren das Gleichgewicht und mussten sich festhalten, um nicht umzufallen. Und spürten es sofort: Die Silona schwamm wieder frei. Schon kam ihr Heck herum. Ankerkette gebrochen, tönte es aus dem Befehlsrohr. Nielsen ließ einen kräftigen schwedischen Fluch los und schrie in das Befehlsrohr hinein: Sofort Bachbordanker klarmachen.

  Im selben Moment wurde das Schiff erneut von einer Bö erfasst. Es bot dem Wind jetzt mit seiner Breitseite ein Vielfaches an Angriffsfläche. Die Silona nahm rasch an Fahrt auf. Das Schiff trieb steuerlos ab! Ruder hart Steuerbord!, riefen Nilson und Mehlert fast gleichzeitig, Maschine volle Kraft zurück. Die beiden erfahrenden Seeleute taten das einzige Richtige: Sie wollten die Silona auf der Stelle in den Wind drehen, um etwas Zeit fürs Ausbringen des Backbordankers zu gewinnen.

 Aber das Schiff gehorchte nicht mehr. Es reagierte weder auf das Ruder noch auf die Kraft der Schraube. Die Silona war zum Spielball des Orkans geworden.Es trieb unaufhaltsam auf die ankernden Schiffe zu. Wenn es der Besatzung jetzt nicht sofort gelingen würde, die Silona an einer Tonne festzumachen- besser noch den zweiten Anker fallen zu lassen- dann drohte eine Kettenhaverie. Niemand an Bord wollte sich ausmalen, was alles passieren könnte, wenn sie mitvoller Wucht in den ankernden Schiffsverband hinein krachen würde....

  Backbordanker klarmachen! Was ist denn da draußen los, verdammt noch mal?, schrie Nilson ins Befehlrohr. Seine Stimme überschlug sich.

 Mehlert äugte angestrengt aufs Vordeck hinaus. Er erkannte schemenhaft, wie die Decksmanschaft verzweifelt versuchte, den zweiten Anker der Silona auszubringen, doch wenige Augenblicke später kam durchs Befehlsrohr die Nachricht, dass sich die Kette im Ankerkasten verheddert hatte. 

  Auch die Männer dort draußen am Bug konnten sich kaum miteinander verständigen. Der Orkan verschluckte jedes auch noch so laut gebrüllte Wort. Trotz des dicken Ölzeugs waren sie nass bis auf die Haut. Ihre Lippen waren vom Schmutzigen Salzwasser verkrustet, und so mancher blutete im Gesicht, weil ihm ein dickes Graupelkorn die Wange aufgerissen hatte. Wenn eine Steilsee über das Vordeck hereinbrach, kam es den Decksleuten vor, als würde eine Steinlawine auf sie niederprasseln. Aber keiner von ihnen spürte Schmerzen, niemand fror. Dafür hatten sie jetzt zu viel Adrenalin im Blut. Denn sie mußten den zweiten Anker ausbringen, koste was es wolle. Die Maschine der Silona lief auf Hochtouren, aber das widerspenstige Schiff lag noch immer quer zum Wind und ließ sich nicht ums Zerplatzen in eine andere Fahrtrichtung zwingen.

   Auf dem Decks der anderen Schiffe erkannte man nun auch die schier ausweglose Situation der Silona. Plötzlich ertönten von allen Seiten die Schiffshörner. Aber die Grenzen der Physik waren längst überschritten: Erich Mehlert kam sich auf der Brücke vor wie in einem Auto, das bei Glatteis ins schleudern gerät und trotz Gegenlenken nicht mehr zurück in die Spur zwingen lässt. Immer näher kamen  die ankernden Schiffe, immer höher türmten sich die Stahlwände und Aufbauten vor der Silona auf. Und die Lücken zwischen den Pötten waren verflucht schmal. Eine Kollision war unvermeidbar. Rettungsboote klar machen, Schwimmwesten anlegen! Rief Nilson dem Ersten Offizier zu, der sofort die Brücke verließ, um die Evakuierung der Manschaft von Bord vorzubereiten- für den schlimmsten Fall der Fälle. Erich Mehlert nickte. So wie es aussah, würde er jetzt wohl auch eine Weste überstreifen müssen, die hinter ihm übern Kartentisch an der rückwärtigen Brückenwand hingen,´. Gott steh uns bei!, flüsterte der schwedische Kapitän in seiner Muttersprache und trat neben den Cuxhavener Lotsen, der in diesen bangen Minuten so unglücklich war wie noch nie in seinem Leben. In Mehlerts Leib rumorte es. Dabei hatten sie doch alles richtig gemacht. Aber der Orkan war einfach zu gewaltig für das alte Schiff.

   Bisher hatte der Lotse das Gefühl von Angst immer verdrängen können. Auf einmal schoss ihm ein alberner Gedanke durch den Kopf: wenn er einfach darauf verzichten würde, die Schwimmwesten anzulegen? Vielleicht verstand der Alte oben im Himmel diesen Wink mit dem Zaunpfahl und ließe noch einmal Gnade walten. Aus den Augenwinkel heraus beobachtete er, dass auch Nilsson keineswegs vorhatte, vorzeitig zu kapitulieren und durch das Anlegen einer Schwimmweste zu demonstrieren. Der Schwede hegte wohl auch noch immer Hoffnung auf ein Wunder. Na, dann würde er ebenfalls den tapferen Mann makieren: Erich Mehlert packte den Handlauf mit beiden Händen und wartete auf den Zusammenstoß. Noch zweihundert Meter, noch Hundert, fünfzig.....         Elbe, 16.Februar 1962,22,35 Uhr

Die stillen Gebete des schwedischen Kapitäns hatten offentsichtlich Gehör gefunden: Denn die Mächte des Himmels hatten ihre Hände schützend über die Silona gehalten und stets im richtigen Moment die entscheidenden Böen geschickt,  mit deren Hilfe der manövrierunfähige auf seiner Höllenfahrt  mitten durch die Ansammlung der auf Reede liegende Schiffe hindurch getrieben worden war. Oft hatten nur wenige Meter zu einer Kollision gefehlt. Aber sie hatten nicht einmal eine Ankerkette gestreift.

   Jetzt zerrte die Silona knapp drei Seemeilen vor der Einfahrt des Nord-Ostsee-Kanals an der Fahrwassertonne 23. Es war der Mannschaft mit viel Glück gelungen, das Schiff dort festzumachen. Nach einer weiteren halbe Stunde voller Bangen war dann endlich der Bordanker wieder klar gewesen, und man hatte ihn fallen lassen. das Nachthochwasser stieg jedoch rasant an, der Orkan schenkte ihnen die stärksten Böen, die sie jemals erlebt hatten, und daher waren sich und der Kapitän und der Lotse darüber einig, dass die augenblickliche Sicherheit trügerrisch war. Denn der Schiffsdiesel der Silona hatte sich tatsächlich als entschieden zu schwach erwiesen, um bei diesen Wind- und Strömungsverhältnissen eine anständige Manövrierfähigkeit im engen Fahrwasser der Elbe zu garantieren. Und der Sturm dachte nicht daran, nachzulassen, im Gegenteil: Vincinette gab nach wie vor alles. Sie hatte sich offenbar vorgenommen, das Schiff aus der Fahrrinne hinauf aufs Deichvorland zu drücken. Hinzu kam  die enorme Schubkraft des auflaufenden Wassers. Erich Mielert blickte beunruhigt in die Nacht heraus. Die etwa 200 Meter entfernte Küstenlinie des südlichen Elbufers war verschwunden. Da, wo sich normalerweise die saftigen Wiesen des Deichvorlandes erstreckten, sah er bloß noch aufgewühltes Wasser. Er wollte sich nicht vorstellen, was jetzt daheim in Cuxhaven los war: Hoffentlich halten die Deiche, dachte er. Hoffentlich wären seine Frau und seine Söhne so schlau, sich selbst und die paar guten Einrichtungsstücke, die sie besaßen, aus dem Erdgeschoß ihres Häuschens  am Döser Deich in den ersten Stock zu retten - falls die See über den Deich käme. 

   Mehlert musste sich regelrecht dazu zwingen, diese sorgenvollen Gedanken an zu Hause verdrängen. Denn er musste sich jetzt auf seine Aufgabe konzentrieren: alles dafür zu tun, um die Silona vor einer Havarie zu bewahren; einer Strandung oder dem Kentern auf dem stürmischen Elbstrom.

   Auf einmal bemerkte er, dass Licht des alten Leuchtturms von Balje, der in ungefähr zwei Meilen Entfernung auf dem Deichvorland des südlichen Elbufers stand, erloschen war.

  Balje,16. Februar, 22.15 Uhr

Schon seit den späten vierziger jahren versah Walter Drygalla aus dem Dörfchen Hörne, nahe des Elbe Nebenflusses Ost, den Wöchentlichen Schichtdienst auf dem alten, weißen Leuchtturm von Balje. Dies war seine Woche. Erst am nächsten Montag würde sein Kollege Schildt, der ebenfalls aus Hörne stammte, das mit Gas betriebene Leuchtfeuer des Turms entzünden. Beide Männer standen im Dienst des Cuxhavener Wasserwirtschaftsamtes.

   Drygalla mochte die Einsamkeit, die sein Beruf mit sich brachte. Hier oben, 17Meter Höhe, fühlte er sich wohl. Vor seiner Nase zogen  die Schiffe vorbei, die Luft war frisch und rein, unter ihm, auf den Vieweiden des Deichvorlandes, versammelten sich in den wärmeren Jahreszeiten zu Sonnenuntergang ganze Kolonien verschiedenster Vogelarten, pickten Engerlinge und rosafarbene Regenwürmer aus der fetten schwarzen Erde und sorgten für ein Konzert. Daheim galt er zwar als ziemlich maulfauler Zeitgenosse - als Leuchtturmwärter muss man wahrscheinlich zum Schweigen geboren sein -, doch seine Arbeit verrichtete er tadellos. Auch wenn die Dorfgemeinschaft etwas anzupacken hatte, war er stets als einer der Ersten zur Stelle und krempelte die Ärmel seines Blaumannes hoch. 

   Wie alle Einheimischen war er mit den Kapriolen des Wetter sowie der Gezeiten vertraut - und natürlich auch mit denhäufigen fatalen Folgen. Aber noch nie hatte er eine unheimliche Nacht erlebt als diese. Kein einziger der vielen Herbst - Winterstürme,  die er bisher auf dem Leuchtturm von Balje überstanden hatte, konnte sich mit diesem Orkantief messen, das ihn bei seinem Dienstantritt am Nachmittag fast aus dem Fahrradsattel gehoben hätte.

   Kurz nachdem die Flut angefangen hatte aufzulaufen, hatte Drygalla das dunkle Wasser auf sich zukommen sehen. Irgendwann war es über das Elbufer getreten, plötzlich war es dagewesen. So wenn man sich tagelang auf eine Blume konzentriert und trotzdem  den Moment verpasst, wenn der Blütenkelch sich öffnet. Da waren die Wellen über die Kante des Sommerdeichs landeinwärts geschwappt, und jetzt, gut eine Stunde vor Mitternacht saß der Leuchtturmwärter wie ein Gefangener auf seinem Turm im Dunkeln, umgeben von aufgewühltem Wasser, das mit Schmackes an den Sockel aus Backsteinen und Zement klatschte. Doch viel schlimmer war: Die Sturmflut hatte den Verschlag mit den Gasflaschen weggerissen, aus denen Signallicht des Turms gespeist wurde. Immerhin hatte er sein Fahrrad nicht draußen stehen lassen.

   Unruhig blickte der Leuchtturmwärter auf die dunklen  Sihoutten der Schiffe, die auf der Elbe vor Anker lagen. Eine elektrische Notbeleuchtung - irgendeine Notbeleuchtung- gab es nicht, mitder er das Leuchtfeuer wieder in Betrieb hätte setzen können. er fühlte sich daher überflüssig, und angesichts dieser gewaltigen Sturmflut schossen ihm weitere Gedanken durch den Kopf: Würden die Deiche der Oste halten? Würden sie sich als zu hoch genug erweisen, oder drohte seinem Heimatdorf Land unter in dieser Nacht?    Soweit Drygallas Auge reichte, sah er bloß Wasser. Hörne lag knapp vier Kilometer südlich des Leuchtturms. Aber er hatte jetzt nicht mal die Möglichkeit zu verschwinden, sondern er würde hier oben ausharren müssen, bis das wasser wieder abfloss oder zumindest auf einen Pegelstand sank, der es einem Trecker gestatten würde, über die aufgeweichten Wiesen zum Leuchtturm durchzukommen. Er war sich sicher, dass die Leute aus dem Dorf inzwischen bereits Sandsäcke an die Ostedeiche schleppten, aber er würde nicht dabei sein können und die Ärmel hochkrempeln.   

Balje, 17.Februar 1962, 0.05 Uhr

Seit über zwei Stunden war das Feuer im Leuchtturm von Balje schon erloschen. Seit über zwei Stunden fühlte sich der Leuchtturmwärter Walter Drygalla wie ein Gefangener auf seinem Ausguck. Seit über zwei Stunden stieg die Flut unaufhörlich, obwohl der Höhepunkt des Abendhochwasser eigentlich längst überschritten sein musste.

Aber der Druck des stetigen Windes aus nordwestlicher Richtung ließ den Wasserstand immer weiter ansteigen. Der Leuchtturmwärter suchte mit seinem Fernglas den Horizont ab. Es war schier zum Verückt werden, hliflos zuzusehen zu müssen, wie die Natur zum Angriff auf das Land angetreten war, das die Menschen in Generationen urbar gemacht hatten. Unten donnerten die Wellen in einem fort gegen seinem Turm und die heftigen Orkanböen ließen ihn zittern. 

   Auf einmal stockte dem Leuchtturmwärter der Atem. Ein paar Sekunden lang glaubte er an eine Optische Täuschung. Drygalla setzte das Glas ab, rieb sich die Augen und starte dann erneut durch den Feldstecher. Tatsächlich: Da kam ein Schiff gefahren. Aber es fuhr nicht dort, wo es eigentlich sollte: im Fahrwasser der Elbe nämlich. Sondern es kam auf ihn zu. Auf ihn und seinem Leuchtturm. Und so wie es aussah, fuhr es auch nicht, sondern tanzte wie eine Nusschale auf den Wellen auf und ab, manövierunfähig. Die Naturgewalten warfen es hin und her. Meine Fresse, dachte Drygalla, entweder ist die Mannschaft total besoffen, oder die haben einen Maschinenruderschaden. Dabei war es kein kleiner Kahn, der sich da näherte, sondern ein ziemlich großes Schiff. Drygallas Magen krampfte sich zusammen. Er begann allmählich, sich ziemlich ungemütlich zu fühlen. Denn das Schiff hielt genau auf seinem Leuchtturm zu.

   In diesen Minuten herschte an Bord der Silona helle Aufregung. Fünf Minuten vorher hatte eine Orkanbö das Schiff aus seiner Verankerung gerissen. Ein paar bange Sekunden lang hatte es mit seinem vollen Gewicht an der Tonne 23 gezerrt, hatte den Sturm erneut die Breitseite geboten, sodass Kapitän Nilson nichts übrig geblieben war, als die Verbindung zur Tonne kappen zu lassen. Auf diese Weise hatte das Spiel von Neuen begonnen: Die Maschine lief zwar auf volle Kraft rückwärts, aber trotzdem trieb die Silona unaufhaltsam auf die Küstenlinie zu. Eine solche aberwitzige Situation hatte derLotse noch nicht erlebt:  Da stand er nun auf einem seetüchtigen Schiff, mit laufender Maschine und intakter Ruderanlage, doch welches Manöver sie auch versuchten, die Silona wieder unter Kontrolle zu bekommen: Dieser Orkan war einfach stärker. Mehlert und der Kapitän sahen sich beide betroffen an. Worte waren nicht mehr nötig. Sie würden stranden. Sie wussten bloß nicht wie und wo.

   Verdammter Mist, sagte der Lotse tonlos, tippte dem Kapitän auf die Schulter und deutete nach vorn. Sehen sie auch den Leuchtturm da? 

    Walter Drygalla brach der kalte Angstschweiß aus. Das unheimliche schwarze Schiff kam immer näher. Er schätzte die Entfernung zwischen Bug und Turm auf höchstens 400, vieleicht  500 Meter. Jetzt konnt er durchs Glas bereits ein paar Gestalten erkennen, die an Deck hin und her eilten. Ihm wurde klar, dass sich auch die Besatzung längst der Gefahr bewusst war, in der sie schwebte. Aber viel wichtiger erschien ihm nun die Frage, was er tun sollte, wenn das Schiff mit seinem Leuchtturm kollidieren würde? Sollte er versuchen, im letzten Augenblick aufs Deck zu springen?  Von der Höhe her hätte es vielleicht gepasst.

   Ab 0.13 Uhr musste sich der Leuchtturmwärter Drygalla dann keine Sorgen mehr um seinen Leuchtturm machen. Dafür wussten er und die Besatzung der Silona, dass das Schiff höchstwarscheinlich verloren war. Denn sanft - eine Butterweiche Landung, würde Erich Mehlert später mit sarkastischem Unterton beim Stammtisch der Cuxhavener Lotsenbruderschaft erzählen - berührte die Silona den Grund und rutschte aufrecht wie eine Lady auf glatten Tanzparkett über die schlickige Elbwiesen, bis sie schließlich mit einem Ruck zum stehen kam. Den Leuchtturm hatte sie um etwa 100 Meter verfehlt. Schiffsschraube drehte noch immer, die betagte Maschine gab nach wie vor alles, doch was die Silona jetzt gebraucht hätte, wäre ein noch höherer Wasserstand gewesen. Bloß eine lächerliche Handbreit Wasser unterm Kiel... Aber diesen Gefallen tat ihr die Sturmflut nicht: der Scheitelpunkt des Hochwasser war überschritten. Trotzdem sagte Mehlert: Fordern Sie Schlepperhilfe aus Cuxhaven an, Herr Nilson! Vielleicht geht da doch noch was.

   Der Leuchtturmwärter Walter Drygalla, fernab von Hamburg in Balje an der Elbe, saß da wenigsten noch windgeschützt im trockenen, oben auf seinem nutzlos gewordenen Turm. Er konnte sich gar nicht sattsehen an den skurrilen Bild, das sich ihm in gut 100 Meter entfernt bot: die gestrandete Silona, die es sich auf dem überfluteten Deichvorland gemütlich gemacht hatte. Die Maschine, die Steueranlage sowie die Schraube waren intakt. Aber leider reichte die Wassertife nicht aus, und würde der alte Pott auch nie von hier fortkommen, jedenfalls nicht als Ganzes.

   Die beiden Schlepper Eisfuchs und Neuwerk aus Cuxhaven hatten sich schon lange vor Sonnenuntergang, als das Niedrigwasser eingesetzt hatte, von Kapitän und dem Cuxhavener Lotsen Erich Mehlert verabschiedet und waren zur Elbmündung zurückgedampft.

   Die Crew der Silona war nun zum Warten verurteilt. Irgendwann würde sie natürlich jemand von dem verstorbenen Schiff herunterholen. Und dem Leuchtturmwärter von seinem Turm. Aber den ganzen Sonnabend würde niemand kommen, am Sonntag auch nicht, und je länger diese Warterei dauerte, desto mehr würde Walter Drygalla plötzlich das Gefühl haben, dass ihn in Hörne offenbar niemand so richtig vermisste.

   Dass er und die Männer von der Silona dann noch bis zum Morgen des 22. Februar - also insgesamt sechs Tage- würden ausharren müssen, bis der Wasserspiegel sich endlich so weit gesenkt hatte, dass mehere Bundeswehr - Lastwagen zu ihnen durchdringen konnten, hätte Drygalla zu diesem Zeitpunkt jedoch niemals gedacht.                                                                                                                                                                                                                             

 

 

Bundeswehr bei Aufräumarbeiten
Schlichtmann Neuenhof
Schlichtmann Neuenhof
Freiburg
Freiburg
Basbeck/ Osten. Im Hintergrund die Schwebefähre
Geversdorf / Oberndorf / Orsteil Laak
Oberndorf
Kraftwerk - Schilling- Stade

Hochwasser 1976

Hochwasser 1976 Gellertstraße zum Leuchtturm.-R.S.
Überfahrt zum Baljer Leuchtturm 1976.-Bild R.S.
Siel-Schleuse Ostemündung.-Bild R.S.